Der Pionier-Missionar
Er hätte mehr als genug Gründe zum Aufgeben gehabt: gescheiterte Hochzeit, Mordanschlag, früher Verlust von Kindern, Einsamkeit und vieles mehr. Doch Samuel Ali Hussein, der erste einheimische Mitarbeiter der damaligen Sudan-Pionier-Mission, blieb seinem Auftrag treu: Seine Heimat mit der frohen Botschaft des Evangeliums zu erreichen. Ein Auszug aus seiner faszinierenden Lebensgeschichte.
Schon seine frühe Kindheit war von Schwierigkeiten geprägt: Mohammed Ali Hussein, wie er damals noch hiess, wuchs in den 1860er Jahren in Oberägypten ohne Vater auf, da dieser sich von seiner Frau hatte scheiden lassen. Nach einer Heuschreckenplage vom Hungertod bedroht, zog seine Grossmutter mit ihm fort. In der Koranschule hielt er es nicht lange aus: Er flüchtete zuerst zu einem Bauern und dann, als blinder Passagier auf einem Segelschiff, nach Kairo, wo sein Vater lebte.
«Du wirst einmal Missionar werden!»
Von dort gelangte Mohammed einige Zeit später mit einem Schweizer Bankier, der ihm eine gute Ausbildung ermöglichen wollte, auf einem Dampfer nach Frankreich und von dort weiter an den Neuenburgersee. Als der Zug entlang der Mittelmeerküste in den ersten Tunnel einfuhr, schrie der Zehnjährige um sein Leben und versuchte aus dem fahrenden Zug zu springen. So gross war seine Angst, das unheimliche dunkle Loch würde zu seinem Grab werden. In seiner Heimat hatte man ihm nämlich erzählt, die Europäer würden unter der Erde hausen.
Im Internat wurde der Junge, der bis dahin kaum Schulbildung genossen hatte, zwar freundlich aufgenommen, kam aber mit der neuen Sprache und Kultur überhaupt nicht zurecht. Er begann den Unterricht derart zu stören, dass man ihn fortschicken wollte. Doch Lea, die Tochter des Schuldirektors, setzte sich für den kleinen Fremdling ein und kümmerte sich liebevoll um ihn. Als er im Winter schwer erkrankte, versorgte sie ihn wie eine Mutter, sang ihm christliche Lieder vor und betete viel für ihn. Einmal sagte sie zu Mohammed: «Du wirst einmal ein Missionar in deiner Heimat werden und deinen Landsleuten von Jesus erzählen.»
Aus Mohammed wird Samuel
Nun war Mohammeds Interesse am christlichen Glauben geweckt. Er fing an, in der Bibel zu lesen, wurde innerlich bewegt. 1876, im Alter von 13 Jahren, liess der Junge aus Oberägypten sich in der Kirche des Städtchens Ste-Croix taufen. Ihm war bewusst, dass seine Volksgenossen das nicht gutheissen würden, da sie das Christentum als «unreine Religion» betrachteten. Als äusseres Zeichen für den inneren Wandel, den er vollzogen hatte, nannte er sich fortan nicht mehr Mohammed, sondern Samuel. Von da an war es sein Wunsch, seinen Landsleuten in Oberägypten die frohe Botschaft des Evangeliums zu erzählen, dessen Wirkung er selber erlebt hatte.
Der totgeglaubte Sohn kehrt heim
Nach Zwischenstationen in London, Sheffield, Beirut und Kairo kehrt Samuel Ali Hussein 1885 in seine nubische Heimat zurück. Seine Familie hat ihn längst für tot gehalten, nun ist der «verlorene Sohn» zurück. Die Freude bei der weitverzweigten Verwandtschaft ist riesig. Doch für Samuel beginnt eine schwierige Zeit: Die nubische Sprache und Kultur ist ihm völlig fremd geworden, er kann die Hitze von über 50 Grad kaum ertragen – und vor allem ist er der einzige Christ seines Volksstamms. Wie kann er unter diesen Umständen bestehen?
Samuel bemüht sich, sein europäisches Denken abzulegen und seinen Landsleuten gleich zu werden: Er kleidet sich wie sie, arbeitet als einfacher Bauer, hält sich an die ihm völlig fremden Sitten und Gebräuche. Schon bald will man ihn verheiraten, wie es sich für einen jungen Mann gehört – mit einem zwölfjährigen Mädchen. Nach anfänglichem Widerstand ist Samuel auch zu diesem Schritt bereit. Doch wegen eines kuriosen Missverständnisses läuft ihm seine Braut in der Hochzeitsnacht sprichwörtlich davon. Das ganze Dorf lacht über sein Missgeschick, doch Samuel ist darüber gar nicht traurig.
Feiger Mordanschlag
Öffentlich über seinen Glauben zu reden, daran ist zu Beginn gar nicht zu denken. Samuel arbeitete hart, verhält sich gegenüber jedermann freundlich, begegnet Anfeindungen mit Sanftmut und Gelassenheit. Über längere Zeit ist dies seine einzige «Predigt». Erst nach und nach beginnt er sich von bestimmten Gebräuchen zu lösen und auch mit Worten zu seinen Überzeugungen zu stehen. Das reicht allerdings, um Feinde auf den Plan zu rufen: fanatische junge Männer, die in Samuel eine Gefahr sehen. Mit einer Axt versetzt ihm einer von ihnen in der Dunkelheit einen Schlag in den Rücken. Der Attackierte überlebt schwer verletzt. Seine Familie drängt auf Vergeltung. Doch Samuel entgegnet ihnen: «Alle Menschen sind Sünder. Keiner ist vor Gott gerecht. Auch ich nicht. Wenn ihr jetzt seht, dass ich meinem Feind verzeihe, so wisst, dass ich das nur tun kann, weil Jesus Christus all meine Schuld vergeben hat.» So vergibt Samuel seinen Feinden öffentlich. Nach diesem Versöhnungsritual gehen alle tief bewegt nach Hause.
Begegnung am Staudamm
Wir schreiben das Jahr 1896. Samuel ist inzwischen glücklich verheiratet, seine Frau möchte sich bald taufen lassen. Doch während er in der Schweiz weilt, um alte Freunde zu treffen, ereilt ihn die Nachricht: Seine Frau ist tot, von Cholera dahingerafft. Was für ein schwerer Schlag, welch schmerzhafter Verlust!
Später arbeitet er im Postbüro, das in Zusammenhang mit dem Bau des Nil-Staudamms bei Assuan betrieben wird. Dort begegnet er im Jahr 1900
Dr. Grattan Guinness, dem Leiter der Missionsschule in England, an der Samuel studiert hatte. Guinness fragt Samuel, ob er bereit wäre, bei der Mission mitzuarbeiten. Der antwortet mit einem freudigen «Ja». So entsteht die «Sudan-Pionier-Mission» (SPM), auf welche die Mission am Nil zurückgeht (siehe Kastentext auf der nächsten Seite).
Die Arbeit der SPM begann mit einer Missionsschule und einem Buchladen in Assuan. Eine abenteuerliche, sechsmonatige Erkundungsreise führt Samuel in den Nordsudan, wo man eine Missionsstation gründen will, und zurück. Während der insgesamt 1600 Kilometer langen Reise zu Fuss und auf einem Esel knüpft Samuel Kontakte, verteilt Bibeln und andere Schriften. Gerne hören ihm die Dorfbewohner zu, wenn er abends biblische Geschichten erzählt. In Assuan wächst die Arbeit, Missionare aus Europa stossen dazu.
Samuels Kinder werden entführt
1903 trifft Samuel ein weiterer Schicksalsschlag: Als er von einer Beerdigung zurückkehrt, sind seine vier Kinder spurlos verschwunden. Es zeigt sich: Verwandte, denen Samuel vor einiger Zeit die Bitte um die Hand seiner noch viel zu jungen Tochter abschlug, haben sie entführt. Samuel wendet sich an die Provinzverwaltung, die Polizei, das Gericht – und blitzt überall ab. Schliesslich erreicht er, dass sich das ägyptische Innenministerium mit dem Fall befasst. Doch befreundete amerikanische Missionare raten ihm, die Klage fallenzulassen und auf sein Recht zu verzichten: Bei einem Schuldspruch der Entführer könnte er selbst unmöglich in Ägypten bleiben, argumentieren sie. Schweren Herzens fügt sich Samuel, legt alles in Gottes Hand und betet unablässig für eine Rückkehr seiner Kinder. Nach drei Jahren kann er seinen Sohn und die jüngste Tochter wieder in die Arme schliessen. Eine der älteren Töchter wurde von den Verwandten verheiratet, die andere ist bereits verstorben.
Weitere Rückschläge und Wachstum
Eine neu eröffnete Missionsstation nördlich von Assuan, deren Leitung Samuel übernimmt, muss nach nur einem Jahr wieder geschlossen werden, weil das Geld für die Miete des Gebäudes fehlt. Die Ehefrau des zur Unterstützung aus Deutschland entsandten Pfarrers Theodor Ziemendorff erkrankt noch auf dem Weg nach Oberägypten und stirbt in Kairo. Dennoch wächst die Arbeit: In Assuan entsteht unter der Leitung von Dr. Willy Fröhlich eine Klinik, die sehr bald rege besucht wird. Samuel dient hier als Übersetzer. Gemeinsam besuchen sie Dörfer in der Umgebung. Gespannt lauschen die Menschen den Geschichten aus der Bibel, die er «mit grosser Lebendigkeit und Wärme» erzählt, wie Dr. Fröhlich festhält. 1910 kann Pfr. Ziemendorff eine kleine, neuerbaute Kirche eröffnen. Die ganze Gemeinde ist von Lob und Dank erfüllt: Auf die Tränensaat hat Gott Früchte der Freude geschenkt. Weitere Missionsstationen entstehen.
Der schwerste Schicksalsschlag
Im Jahr 1914 bringt der Erste Weltkrieg eine Zäsur: Die deutschen Missionare müssen das Land verlassen, nur Dr. Fröhlich darf als Schweizer noch ein Jahr bleiben. Nun liegt die Obhut über die Missionsprojekte bei Samuel. Der erweist sich als äusserst gewissenhafter Verwalter. Die Missionsschule muss allerdings wegen heftigen Widerstands durch koptische Christen bald geschlossen werden, und staatliche Verbote schränken die Arbeit immer mehr ein. Samuel fühlt sich zunehmend isoliert und einsam. Wie sehr er sich nach einer Rückkehr der europäischen Missionare sehnt, kommt in zahlreichen Briefen zum Ausdruck.
Um nicht zu verzweifeln, gibt er sich eine hilfreiche Tagesstruktur: Täglich verbringt er viel Zeit im Gebet, investiert in persönliche Beziehungen und widmet sich der Übersetzung von Bibelteilen in die nubische Sprache. In einem Brief an die SPM-Zentrale in Deutschland schreibt er: «Solange wir uns an unseren Herrn klammern und unsere Gemeinschaft mit ihm nicht unterbrochen ist, brauchen wir keine Sorge zu haben, dass unser Zeugnis verhindert wird.»
Dann, Anfang 1918, folgt der wohl schwerste Schicksalsschlag, den Samuel in seinem bewegten Leben verkraften muss. Sein geliebter Sohn Abbas, der sein Theologiestudium abgeschlossen hat und in den Missionsdienst eintreten möchte, erholt sich nicht mehr von einer schweren Tuberkulose. Er stirbt Ende Januar im Alter von 25 Jahren.
Samuel schreibt nach Deutschland: «Wie wahr ist es, dass Gottes Gedanken nicht unsere Gedanken und seine Wege nicht unsere Wege sind. Ich trauere jedoch nicht über ihn wie die, die keine Hoffnung haben, weiss ich doch, dass er nun befreit ist von allem Leid und Elend. (...) Was hätte das Leben unseres lieben heimgegangenen Sohnes sein können, und was die Frucht seines Lebens. Nur der Herr weiss dies. Aber ich bin gewiss, dass alle seine Führungen zu unserem Besten sind.»
Samuels Tochter Mariam und Sohn Abbas im Jahr 1906. Über den Ehemann von Mariam, Albert Hamilton, und seinen Kontakt zu Kaiser Haile Selassie, öffnet sich für die MN der Weg nach Äthiopien.
Verschlossene Türen
Nach Kriegsende sind die Türen für eine Rückkehr der Missionare nach Ägypten weiterhin verschlossen. Die britische Zwangsverwaltung beschliesst, das gesamte Missionseigentum zu beschlagnahmen und zu enteignen. Als Samuel, der treue Verwalter, davon erfährt, bricht er fast zusammen. Die Not treibt ihn ins Gebet: «Ich ging in mein Schlafzimmer, fiel auf die Knie und betete unter fliessenden Tränen zu meinem Gott: (...) Nimm die Missionshäuser aus der Hand der Menschen, die sie weggenommen haben, und bringe unsere Missionare wieder zu uns zurück. Nur du allein kannst dies vollbringen.»
Die lokalen Bürgermeister, von denen viele kaum lesen und schreiben können, wenden sich mit einer Bittschrift an die Regierung in Kairo und die Militärverwaltung in Kairo. Der Text ist ein eindrückliches Zeugnis für den Dienst der Missionare (Zitat leicht bearbeitet und gekürzt): «...die unserem Volk Gutes getan haben, vor allem durch ihre Demut und ihre Geduld, sowie ihre beispiellose Liebe zu Grossen und Kleinen und gegenüber unseren Armen. Und das alles nicht mit dem Mund, sondern mit der Tat. Kurz, wir sind durch diese Leute Menschen geworden. Unsere Häuser sind Häuser der Wahrheit geworden. Deshalb bitten wir: Haltet diese Menschen, die uns nur Gutes getan haben, nicht von uns fern!».
Unerwartete Wende
Die Bitte wird erhört: Die SPM erhält ihre Missionsstationen in Assuan und Darau mit allem Eigentum zurück. Am 2. November 1924 erreicht Samuel Ali Hussein das Telegramm mit der Ankündigung, dass zwei Tage später vier Missionare aus dem britischen Mandatsgebiet Palästina – ein Ehepaar und zwei Frauen – in Assuan eintreffen werden. Er war überwältigt: «Bei dieser Nachricht musste ich vor Glück laut jubeln und meinen Gott preisen. Meine Beine waren wie von Elektrizität getrieben, meine Schwäche verschwand, meine Augen wurden wieder klar und hell und meine Freude war unbeschreiblich.»
Nun beginnt der Wiederaufbau der Arbeit. Mit der Ausdehnung des Missionsgebiets Richtung Süden erfüllt sich für den inzwischen gut 60-jährigen Samuel das Herzensanliegen, den Beginn der Missionsarbeit unter seinem eigenen Volk, den Nubiern, mitzuerleben. Er selber widmet sich weiterhin der Bibelübersetzung. Zusammen mit deutschen Missionaren entstehen ein nubisches Lehrbuch und ein Wörterbuch.
«Bleib bei mir, heute ist mein letzter Tag»
Im Herbst 1926 bricht in Assuan eine Ruhr-Epidemie aus. Und noch einmal muss Samuel einen brutalen Schlag verkraften: Seine Tochter und eine kleine Enkelin erliegen der Seuche. Auch dieses Leid trägt er mit Fassung, getragen von seinem starken Glauben an ein Wiedersehen.
Wenige Monate später geht seine eigene Kraft zu Ende. Als ihn Missionar Enderlin fragt, ob er noch etwas Besonderes auf dem Herzen habe, antwortet Samuel: «Nein, nur bei dem Herrn sein allezeit, was viel besser ist.» Wenige Tage später, am 27. März, sagt Samuel zu Missionar Rippert, der ihn morgens besucht: «Lass deine viele Arbeit heute liegen und bleibe bei mir, denn heute ist mein letzter Tag.» Wenig später geht seine Kraft definitiv zu Ende. «Heiland, Heiland...» sind seine letzten Worte. Dann schläft er friedlich ein.
Ein selten reifer Christ
Eine Mitarbeiterin von Samuel Ali Hussein beschreibt sein Leben und seinen Glauben wie folgt: «Samuel steht als ein selten reifer Christ vor mir, der seinem Herrn bis zur letzten Faser seines Seins die Treue hielt (...). Für seine eigene Person war er bescheiden und anspruchslos. Sieht man sein Leben an, so war es eine Kette von Kampf, Leid, Alleinstehen, Nichtverstandenwerden und Schwierigkeiten. Von seiner Seite aus gesehen aber ein eisernes Empor- und Hindurchdringen, voller Treue, Gehorsam und Geduld. Sein Glaube war ein unerschütterliches Rechnen mit dem Herrn.»
Die Anfänge der Mission am Nil
Die Mission am Nil geht auf die Sudan-Pionier-Mission (SPM) zurück, die am 10. Januar 1900 in Assuan durch den Briten Dr. Grattam Guinness und seinen deutschen Schwiegersohn Dr. Karl Kumm gegründet wurde. Samuel Ali Hussein war der erste einheimische Mitarbeiter. Auf St. Chrischona entstand 1901 ein Gebetskreis für die SPM und damit ein erster Bezug zur Schweiz. Zu den ersten Schweizer Missionaren gehörte der Arzt Dr. Willy Fröhlich, der 1906 nach Assuan ausreiste.
1915 ändert die SPM ihren Namen in «Evangelische Muhammedaner-Mission» (EMM). 1923 entstand in der Schweiz ein Zweigverein (SVEMM), der dazu beitrug, die Arbeit in Ägypten nach dem Krieg wieder zu aktivieren. Mitte der 1930er Jahre führte die Weltwirtschaftskrise in Deutschland zu einem dramatischen Einnahmeneinbruch, wovon der Schweizer Verein weniger betroffen war. Dieser wünschte die Arbeit nach Abessinien (heute Äthiopien bezieungsweise Eritrea) zu erweitern und wollte im Vorstand stärker vertreten sein.
1935 kam es zur Verselbständigung des Schweizer Vereins, wobei die EMM (Wiesbaden) und der SVEMM (Konolfingen) noch über Jahrzehnte zusammenarbeiteten. 1962 folgte der Namenswechsel in «Schweizerische Evangelische Nilland-Mission», aus der im November 1999 die «Mission am Nil International» wurde. Seit 1998 befindet sich die Schweizer Geschäftsstelle in Knonau.
Mehr zum Leben von Samuel Ali Hussein
Die Informationen in diesem Beitrag stammen aus dem 60-seitigen Taschenbuch «Das Tal der Schätze – Das Lebensbild von Samuel Ali Hussein», erschienen 1997 im Verlag der EMO, Wiesbaden. Die EMO hat uns freundlicherweise ein PDF dieses vergriffenen Buches zur Verfügung gestellt, das wir Interessierten gerne zusenden. Bezug über unser Sekretariat: info@mn-international.org