«Das MC ist mein drittes Kind»
Einst Manager einer Brauerei, engagiert sich Nebyu Tamrat seit 13 Jahren für das Misrach Center in Addis Abeba. Wer mit ihm spricht, merkt schnell: Er brennt für seine Arbeit und für die ihm anvertrauten Menschen.
Interview: Mathias Rellstab, Kommunikation Mission am Nil | Lesezeit: 5 Minuten
Nebyu, du leitest den «Business-Teil» des Misrach Centers (MC). Was bedeutet das?
Das MC besteht formell aus zwei Organisationen: einem gemeinnützigen Teil, den wir «NGO» nennen, und einem gewinnorientierten Unternehmen, das wir als «Business» bezeichnen. Diese Aufteilung hat mit rechtlichen Vorgaben hier in Äthiopien zu tun. Einfach gesagt: Die NGO kümmert sich um die Ausbildung und Begleitung von Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Die Business-Sparte verkauft die Produkte, die im MC hergestellt werden. Der damit erzielte Gewinn fliesst in die NGO und deckt einen Teil der dort anfallenden Kosten. Unser Ziel ist, einen möglichst grossen Teil unserer Kosten selber zu erwirtschaften.
Wie gut gelingt euch das?
Es ist eine grosse Herausforderung. Einerseits behandeln die Behörden unsere Business-Sparte wie ein normales Unternehmen. Das heisst, wir müssen einen Teil unseres Umsatzes als Steuern abführen. Dabei verdienen wir ja kein Geld, sondern investieren den ganzen Gewinn in die uns anvertrauten Menschen! Bei jedem Treffen mit den Behörden sprechen wir dieses Thema an: Es ist stossend, dass ein Land, das offiziell die Inklusion von Menschen mit Behinderung fördern möchte, von einem Sozialunternehmen, das in diesem Bereich vorbildliche Arbeit leistet, Steuern einfordert. Doch leider ist das die übliche Praxis in Äthiopien. Dennoch können wir jedes Jahr namhafte Beträge an den Ausbildungsbereich weitergeben. Ohne die Unterstützung durch die Mission am Nil würde es aber nicht gehen.
Mit welchen weiteren Herausforderungen habt ihr zu kämpfen?
Seit den wirtschaftlichen Verwerfungen der letzten Jahre, unter anderem durch die Covid-Krise, sind die Materialpreise massiv gestiegen. Das schmälert unseren Gewinn. Wir können ja die Verkaufspreise nicht beliebig erhöhen, denn wir haben auch eine soziale Verantwortung: Die Kunden sollen sich zum Beispiel die Brillen, die wir herstellen, leisten können. Um so dankbarer sind wir für die Unterstützung durch viele Missionsfreunde in der Schweiz und in Deutschland. Das sorgt für Stabilität und gibt uns Sicherheit.
Auch hochwertige Karten werden im Misrach Center hergestellt und dann in der Schweiz verkauft.
Wie viele Mitarbeiter beschäftigt der Business-Teil des MC, den du leitest?
Derzeit haben wir 90 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Davon sind etwa 70 Prozent körperlich beeinträchtigt. Die meisten haben Familie. Nur schon diese Arbeitsplätze sorgen also dafür, dass Hunderte von Menschen ein Auskommen haben. Dazu kommen die Mitarbeitenden der NGO und natürlich die Auszubildenden.
Was sind eure wichtigsten Produkte?
Unsere umsatzstärkste Sparte ist die Optikabteilung, wo Linsen hergestellt und in Brillen eingepasst werden. An zweiter Stelle kommt die Schreinerei, deren Produkte auch sehr gefragt sind. Früher war die Bürstenherstellung unser zweitstärkster Bereich. Doch seit einigen Jahren sind immer weniger Kunden bereit, unsere hochwertigen Holzbürsten zu kaufen. Der Markt wird von billiger Plastikware aus China überschwemmt. Auch wegen des Krieges im Norden Äthiopiens und Unruhen in vielen anderen Landesteilen haben wir Kunden verloren, weil die Transporte unsicher oder zu teuer geworden sind. Deshalb haben wir derzeit mehr als 30‘000 Bürsten an Lager, viel zu viele! Andererseits beobachten wir, dass es seit der Covid-Zeit vermehrt Leute gibt, die Wert auf hochwertige Möbel oder auf Spielzeug für ihre Kinder legen, was wir ja ebenfalls herstellen. Das kannten wir früher weniger.
Die blinden Bürstenbinder sind Akkordarbeiter, die nach Stückzahl bezahlt werden. Wie geht es ihnen, wenn viel weniger Bürsten verkauft werden?
Das ist in der Tat eine unserer grössten Herausforderungen. Die Bürstenbinder sind auf das Einkommen angewiesen, um sich und ihre Familien zu ernähren. Die meisten machen das seit mehr als 20 Jahren und haben kaum andere Verdienstmöglichkeiten. Als soziales Unternehmen könnten wir es nicht verantworten, sie einfach zu entlassen. So unterstützen wir sie weiterhin, so gut es geht und versuchen ihnen Arbeit zu geben. Es wäre aber nicht sinnvoll, immer mehr Bürsten zu produzieren, während unser Lager überquillt. Wir haben deshalb damit begonnen, die Bürstenbinder auch für einfache Schreinerarbeiten einzusetzen und suchen nach weiteren Möglichkeiten.
Man spürt, dass das Schicksal deiner Mitarbeiter dir auch persönlich nahegeht und du deine Arbeit mit Leidenschaft machst.
Ich habe ja zwei Söhne, 19 und 14 Jahre alt. Als ich meine Aufgabe im Misrach Center übernahm, war der jüngere gerade 1 Jahr alt. Auch deshalb sage ich oft, dass ich eigentlich drei Kinder habe: Meine beiden Jungs Ebenezer und Nathanael – und das MC.
Wude, die von ihrem Ehemann in einem Anfall von Eifersucht lebensgefährlich verletzt wurde und ihr Bein verlor, konnte im Misrach Center eine Ausbildung absolvieren.
Nebyu, dein Alltag ist oft mit Schwierigkeiten und Herausforderungen gepflastert. Woher nimmst du die Kraft und Motivation dafür?
Ich liebe meine Arbeit! Ich hatte zuvor verschiedene Stellen in der Privatwirtschaft, zuletzt in einer Brauerei. Das war ok, aber dort habe ich einfach gearbeitet, um für mich und meine Familie sorgen zu können. Hier im MC sehe ich einen tiefen Sinn: Alles, was wir tun, kommt Menschen zugute, die dringend Unterstützung brauchen. Meine Mitarbeiter sind für mich nicht einfach Arbeitskollegen – ich sehe sie als Freunde, für die ich mich einsetzen will, mit den Gaben, die Gott mir geschenkt hat. Ist ein Mitarbeiter krank oder in einer schwierigen Situation, leide ich mit. Kann eine Mitarbeiterin einen Erfolg feiern, feiere ich mit ihr. Auch während ich für die Missionskonferenz in der Schweiz bin, senden sie mir Fotos und halten mich auf dem Laufenden. Ich freue mich schon so darauf, alle wieder zu sehen, wenn ich nach Addis zurückkehre. Ja, das MC gehört wirklich zu meiner Familie.
Was möchtest du den Freunden der Mission am Nil, die dieses Interview lesen, noch sagen?
An alle, die das Misrach Center unterstützen – vielen Dank! Das MC ist nicht nur ein Ausbildungsort. Es ist ein Ort der Hoffnung. Ein Ort, an dem Behinderung nicht Unfähigkeit bedeutet. Hier werden Einschränkungen zu Möglichkeiten und vergessene Stimmen zu Mitwirkenden. Solche Veränderungen werden möglich, weil jemand sich dafür entschieden hat, sich zu kümmern. Jemand hat sich dafür entschieden, zu geben. Jemand hat sich dafür entschieden, an das Potenzial jedes Menschen zu glauben, unabhängig von seiner körperlichen Verfassung. Wir laden Sie ein, dieser Jemand zu sein. Ob durch Spenden, Gebete, Kauf unserer Produkte oder einen ehrenamtlichen Einsatz – Sie können Teil einer neuen Geschichte und einer neuen Zukunft für viele sein. Gemeinsam und mit Gottes Hilfe können wir Menschen ihr Würde zurückgeben und einen Lebenssinn vermitteln. Vielen Dank, und möge Gott Sie reich segnen!