«Ich, nach Afrika? Sicher nicht!»
Annarös Schafroth bildete in Äthiopien Hebammen aus und rief ein Schutzhaus für junge Frauen ins Leben. Wie sie, obwohl alleinstehend, zu einer Familie kam, und warum ihr nun, zurück in der Schweiz, Autofahren plötzlich Angst macht, erzählt sie im Gespräch..
Interview: Mathias Rellstab, Kommunikation Mission am Nil | Lesezeit: ca. 15 Minuten
Annarös, an was denkst du mit Blick auf deine Zeit in Äthiopien besonders gerne zurück?
Die Einweihung des Tsigereda, wo junge Frauen in Not Hilfe erhalten, war sicher ein Höhepunkt. Auch die Eröffnung der Nono-Klinik, die inzwischen leider geschlossen ist. Beide Projekte waren Herzenswünsche, die Wirklichkeit wurden. Ich freue mich auch sehr, dass im Walga-Gesundheitszentrum im Lauf der Jahre ein einheimisches Hebammenteam aufgebaut werden konnte, das nun die Arbeit weiterführt.
Das Tsigereda wurde 2018 eröffnet. Wie viele Jahre des Betens und Planens gingen dem voraus?
Zuerst dachte ich eigentlich an eine Art Hauswirtschaftsschule für junge Frauen. Diesen Gedanken hatte ich wohl um 2010. Immer wieder bekam ich Impulse durch Bibeltexte, die ich las, machte mir dann Notizen und schrieb die Jahreszahl dazu. Heute staune ich manchmal, wenn ich wieder auf diese Stellen stosse und sehe, wie alles begonnen hat. Später entstand dann die Idee, einen Zufluchtsort für ungewollt schwanger gewordene Teenagermädchen zu schaffen.
Wie hat sich das Tsigereda seit der Einweihung entwickelt?
Es gab viele Höhen und Tiefen, einmal drohte sogar die Schliessung. Aber Gott steht zu dieser Arbeit, ist mein Eindruck. Schön ist, dass ich die Leitung in gute Hände geben konnte: Elsabeth Mesgana als ausgebildete Sozialarbeiterin trägt nun die Verantwortung. Katja Hermann, die mit ihrem Mann Emanuel und den beiden Kindern aus der Schweiz hierhergezogen ist, unterstützt sie.
Wie kam ihr eigentlich darauf, Elsabeth für diese Aufgabe anzufragen?
Ich fragte schon vor Jahren Therese Ramseier, MN-Mitarbeiterin in Addis Abeba, ob sie in ihrem Umfeld eine geeignete Person kennt. Sie dachte an Elsabeth, Tochter eines blinden Heimarbeiters aus dem Misrach Center. Sie hatte damals gerade ihre Ausbildung abgeschlossen und schien uns noch etwas jung für die anspruchsvolle Aufgabe. Später, als bei uns eine Mitarbeiterin für drei Monate ausfiel, kamen wir erneut auf Elsabeth zu sprechen. Ich wollte sie unbedingt zu einem Vorstellungsgespräch einladen. Das gelang dann auch, und der Eindruck war so positiv, dass man sie bat, sofort anzufangen. Tatsächlich kehrte Elsabeth nur noch kurz nach Addis zurück und stieg dann bei uns ein. Ich war von Anfang an sehr glücklich mit ihr. Während der zwei Jahre, in denen wir gemeinsam unterwegs waren, konnte ich ihr Schritt für Schritt immer mehr Verantwortung übertragen. In den Monaten, in denen ich in der Schweiz war, übernahm sie bereits die Leitung und konnte so in die Aufgabe hineinwachsen.
Zu den ersten Gästen im Tsigereda-Schutzhaus gehörten Zwillinge, dere Mutter bei der Geburt gestorben war.
Du selbst bist nach 33 Jahren in Äthiopien definitiv zurück in der Schweiz. War das für dich eine Rückkehr in die Heimat? Oder hast du vielmehr deine Heimat verlassen und fängst nun ganz neu an?
Ich habe meine zweite Heimat verlassen. Zu Beginn in Äthiopien hatte ich viel Zeit gebraucht, bis ich mich einigermassen zuhause fühlte. Manches Unbekannte machte mir Angst. Mit der Zeit ist mir das Land aber zu einem grossen Stück Heimat geworden, vor allem wegen den Menschen, zu denen Beziehungen gewachsen sind, zu meiner «Familie». Mich bei meinen Lieben zu verabschieden, war hart. Nun, zurück in der Schweiz, merke ich, wie mir hier eigentlich vertraute Dinge plötzlich sehr schwerfallen, z.B. Autofahren auf unseren perfekten Strassen, wo man so viele Regeln einhalten muss. Völlig anders als in Äthiopien, wo man eher intuitiv fährt. Auch fällt mir auf, wie vieles sich hier in der Schweiz verändert hat. Und auch ich selber habe mich verändert! Und doch muss ich nicht bei null anfangen, sondern konnte in meine «Glaubensfamilie» zurückkehren. Das hilft mir sehr. Auch meine Geschwister, die im Bernbiet leben, sind nicht allzu weit weg.
Wenn du in Zusammenhang mit Äthiopien von «deiner Familie» sprichst, um was für Menschen geht es da?
Da ist z.B. Dabessa, den ich als fünfjährigen Buben kennenlernte. Mit acht Jahren wurde er Vollwaise, es gab auch keine Verwandten, die sich um ihn hätten kümmern können. Wir unterstützten ihn, so dass er die Schule besuchen und ein Studium machen konnte. Heute ist er Vater von zwei Kindern. Oder Fasika, die ich von Kinderstunden her kannte: Sie musste zum Überleben schon als Kind so viel arbeiten, dass sie zweimal durch die achte Klasse fiel. Mit unserer Hilfe konnte sie die Schule abschliessen und eine Hebammenausbildung machen. Heute ist sie eine wichtige Stütze des Hebammenteams im Walga-Gesundheitszentrum.
Wie gingst du mit der Spannung um, dass die Not gross ist und du ja nur Einzelnen helfen konntest?
Das war mir immer ein Gebetsanliegen: Wem sollen wir helfen? Oft hat es sich dann durch die Umstände gezeigt. Sehr wichtig war mir, immer genau hinzuschauen, auch mit Leuten aus dem Umfeld zu sprechen und nach allen möglichen Lösungen Ausschau zu halten: Gibt es z.B. wirklich keine Verwandten, die für das Kind sorgen könnten? Dennoch ist es letztlich ein Spannungsfeld, in dem man lebt.
Selbst ist die Frau: Annarös legt bei einem Motorproblem kurzentschlossen Hand an.
Wie kam eigentlich bei dir der erste Kontakt zur MN zustande?
Während meiner Bibelschulzeit, vor mehr als 40 Jahren, erzählte mir eine Mitstudentin von der Schweizerischen Evangelischen Nilland-Mission, wie die Mission am Nil damals hiess. Sie berichtete vom Misrach Center. Ich fand das interessant, aber es berührte mich nicht persönlich.
Jahre später, das war 1986, hatte ich meine Stelle bei der Taubblindenhilfe in Zürich gekündigt, um mehr Zeit für meine pflegebedürftige Mutter zu haben. Doch noch vor meinem letzten Arbeitstag verstarb sei. Das brachte mich ins Fragen, was das zu bedeuten habe. Schon länger betete ich: Herr Jesus, was willst du mit meinem Leben? Wo willst du mich haben? Ich hatte viele Ideen, was ich machen könnte, z.B. eine Weiterbildung in der Altenpflege, doch ich hatte innerlich kein Ja dazu. Also betete ich weiter und dachte, Gott würde mir irgendwann ein Ja zum einen oder anderen geben. Eines Tages telefonierte ich mit Edith Lippuner, die den damaligen Missionsleiter, Pfr. Wahlen, unterstützte. Es ging um die Mithilfe bei einer Frauenfreizeit im Güetli. Da fragte sie plötzlich: Du bist doch Krankenpflegerin – wärst du nicht bereit, mit der MN nach Afrika zu gehen? Wir brauchen dringend Mitarbeiter für unsere Gesundheitsprojekte. Nein, sicher nicht, was für ein verrückter Gedanke, war meine erste Antwort. Ich habe bin ja keine diplomierte Krankenpflegerin, und Sprachen liegen mir gar nicht. Ich kann nicht einmal Englisch. Vergiss es!
Danach wollte ich wie immer am Abend noch beten, doch etwas hinderte mich: Nun fragte ich Gott schon so lange, mir meinen Platz zu zeigen, doch nun, wo eine konkrete Anfrage kam, sagte ich einfach so nein – ohne ihn zu fragen. War das richtig? Also zählte ich Gott alle meine Gründe auf, warum das sicher nicht der Weg für mich sein könnte, nach dem Motto: Das musst du doch einsehen, dass das unmöglich ist! Doch die Sache liess mir keine Ruhe mehr. Einige Tage später wollte ich eigentlich meinen Vater besuchen, fuhr dann aber spontan ins Güetli, um mit Edith Lippuner zu sprechen. Mehrere Stunden redeten wir zusammen. Auch sie versuchte ich zu überzeugen, dass ich unmöglich nach Afrika passen könnte. Sie teilte meine Meinung nicht.
Edith schlug mir vor, ich solle erst einmal die Bewerbungsunterlagen ausfüllen und an das Missionsbüro zu senden. Zu meiner Überraschung war die Rückmeldung sehr positiv. Ich solle doch erst einmal eine Sprachschule in England besuchen, um Englisch zu lernen. Man gab mir eine Adresse, ich war allerdings schon spät dran für das nächste Semester. Ich sagte zu Jesus: Wenn in der Sprachschule kein Platz mehr sein sollte, dann ist klar, dass das nicht mein Weg ist. Insgeheim hoffte ich auf eine Absage. Die Anmeldung für die Sprachschule füllte ich bewusst auf Deutsch aus – sollten sie nur sehen, dass ich wirklich kein Englisch kann! Doch ich wurde sofort aufgenommen. Für mich war das eine Bestätigung, dass Gott mich diesen Weg führen möchte.
Dann ging es um die Frage, welche Ausbildung ich nun noch machen sollte – zur Diskussion stand Hebamme oder Krankenschwester, das dürfe ich selber entscheiden. Auf Nachfrage wurde mir klar, dass eine Hebamme dringender gebraucht würde. Nie hätte ich mir vorstellen können, Hebamme zu werden – das kann ich doch nicht! Aber ich machte mich daran, eine Ausbildungsstelle zu suchen. Für mich als Bernerin wäre das Berner Frauenspital naheliegend gewesen. Da es für mich aber ausgeschlossen war, bei Abtreibungen mitzuwirken bewarb ich mich auf Empfehlung einer Freundin in Chur. Der Termin für die Aufnahmeprüfung lag drei Tage nach dem Ende meiner Sprachschule – perfekt. Zu Jesus sagte ich: Wenn das nicht der richtige Weg ist, lass mich bitte durch die Prüfung fallen. Aber ich bestand sie, und ich konnte sogar ein Jahr früher als geplant die Ausbildung beginnen, weil jemand anders absagte.
Wie ging es dann weiter?
Während der Hebammenausbildung hatte ich auch Zeit, die MN besser kennenzulernen. Katharina von Bergen, die mit mir die Bibelschule besucht hatte, arbeitete im Sekretariat und half mir bei meiner Diplomarbeit, indem sie meine handgeschriebenen Seiten auf der Schreibmaschine tippte. Nach der Abschlussprüfung als Hebamme absolvierte ich den Tropenkurs und sollte im Januar 1990 nach Äthiopien ausreisen, um in der Walga-Klinik zu arbeiten. Doch ich erhielt die Arbeitsbewilligung nicht. Niemand verstand weshalb, denn ich hatte alle nötigen Papiere. So reiste ich vorerst in den Sudan, um dort praktische Erfahrung in Tropenmedizin zu sammeln. Damals war der Golfkrieg in vollem Gang, und viele hier in der Schweiz hielten mich für verrückt. Im Sudan hörten wir dann vom Bürgerkrieg, der in Äthiopien ausbrach – nun war klar, warum dort keine Arbeitsvisa mehr erteilt wurden. Nach vier Monaten im Sudan, die für mich sehr wertvoll waren, ging die Türe nach Äthiopien doch auf. Dort angekommen, musste ich zuerst einmal Amharisch lernen.
Amharisch ist eine sehr komplexe Sprache mit 276 Zeichen, und die Sprachschule basierte auf Englisch, was nicht deine Muttersprache ist. Wie ging das?
Es war furchtbar. Nie habe ich so viel geweint wie in diesen sieben Monaten. Sprachen sind wirklich nicht meine Begabung. Oft verstand ich nicht einmal die englischen Sätze voll und ganz, und so sollte ich Amharisch lernen! Ich stand die Sprachschule nur durch, weil ich wusste: Ich muss diese Sprache beherrschen, wenn ich eine Beziehung zu den Frauen aufbauen wollte, die ich betreuen werde. Immer wieder bat ich Gott um Hilfe gebeten und freute mich über jedes Wort, das ich sagen konnte. Nach einigen Monaten, während einer Schulpause, war ich bereits für einige Wochen in der Walga. Da versuchte ich, mit einigen auswendig gelernten Sätzen mit den Frauen zu kommunizieren, die zur Untersuchung kamen. Doch sie verstanden mich nicht! Da war mir wirklich elend zumute. Ja, ich war oft verzweifelt.
Mit der Zeit merkte ich, dass ich mir viel zu viele Gedanken über die Grammatik machte: Ist die Satzstellung korrekt? Verwende ich die richtige Zeitform? Von da an versuchte ich einfach irgendwie zu sprechen. So ging es ein bisschen besser. Die meisten Äthiopier sind auch sehr grosszügig: Wenn sie sehen, dass man sich auch nur ein bisschen bemüht, ihre Sprache zu sprechen, ermutigen und unterstützen sie einen.
Das Walga-Team um 1991 mit vier jungen Schweizerinnen: Beatrice Hauser, Ursula Fischer, Hanni Studer und Annarös Schafroth
Wie hast du dann die erste Zeit in der Walga erlebt? Wie kamst du in einer ganz anderen Kultur zurecht?
Eine schwierige Erfahrung, die ich bis zuletzt immer wieder machte, war, wenn einem das Gegenüber nicht die Wahrheit sagte. Es gab immer wieder Situationen, die wir mit unserem Hintergrund als «Lüge» empfinden, die Menschen in Äthiopien aber nicht. Wenn etwa jemandem ein Missgeschick passiert und etwas kaputtgeht, ist es üblich und legitim zu sagen «Ich weiss von nichts», auch wenn man es selber war oder den Schuldigen kennt. Alles andere würde als inakzeptable Blossstellung empfunden. Ein anderes Beispiel: Manchmal liess ein Mitarbeiter alles stehen und liegen, mit der Begründung, ein Onkel sei sehr krank. Damit hatte ich natürlich Mühe. Andere klärten mich dann auf, dass der Onkel vermutlich gestorben war. Das spricht ein Äthiopier aber nicht aus, bevor er nicht zuhause war und mit seinen Angehörigen getrauert hat. Auch jemand in Gegenwart eines anderen zu korrigieren, ist sehr unhöflich. So fühlte ich mich oft verletzt und habe mit meiner Direktheit auch andere verletzt.
Wie hast du es denn gehandhabt, wenn du z.B. jemand auf einen Fehler hinweisen musstest?
Im persönlichen Gespräch, ohne dass andere dabei waren, und indem ich versuchte, vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen. Auch so waren es letztlich nur einige enge Mitarbeiter, die sich mit der Zeit getrauten, hinzustehen und offen einzuräumen: Ja, das ist mir passiert, das ist schiefgelaufen.
Für uns Schweizer sind Ehrlichkeit, Offenheit, Transparenz wichtige Werte, die wir auch mit dem christlichen Glauben verknüpfen. Wie gingst du damit um, wenn Menschen, die deinen Glauben teilen, solche Werte ganz anders auslegten?
Das hat mich oft beschäftigt, und ich versuchte das auch zu thematisieren: In der Bibel steht doch, wir sollen nicht lügen, nicht stehlen. Da hörte ich als Antwort: Wenn mir etwas fehlt, und hier gibt es so viel davon, dann kann ich doch miteinander teilen, oder nicht? Manches musste man einfach stehen lassen. Andererseits sagten sie mir: Du bist Christ, und doch explodierst du manchmal. Wie bringst du das unter einen Hut? Ja, da wurde mir der Spiegel vorgehalten. Natürlich gab es manchmal spannungsvolle Situationen, gerade in der Geburtshilfe. Und da gelang es meinen äthiopischen Mitarbeiterinnen oft viel besser als mir, Ruhe zu bewahren.
Ein hilfreicher Ansatz ist, wenn man versucht voneinander zu lernen. Auch das Gebet war mir in schwierigen Situationen eine Hilfe. Und manchmal bezog ich eine Drittperson als Vermittler bei, was in der äthiopischen Kultur verbreitet ist. Die Vermittlungsperson kann z.B. mit dem Gegenüber ein Vorgespräch führen und den Boden vorbereiten, damit man den Konflikt überhaupt thematisieren kann.
Deine erste Aufgabe in der Walga war, eine Geburtshilfeabteilung aufzubauen. Vor dir gab es dort keine ausgebildeten Hebammen. Was trafst du an?
Vor meiner Ausreise hörte ich nicht viel Ermutigendes: Hanni Studer und Ursula Fischer sagten mir, in der Klinik gebe es eigentlich nur schwierige Geburten. Denn Frauen, die keine Probleme haben, gebären zuhause und kommen gar nicht erst. Ich wusste, da ist kein Arzt vor Ort und kein Krankenhaus in der Nähe. Umso mehr war mit klar, dass ich auf Gottes Hilfe angewiesen sein würde.
Gott sei Dank hatte ich dann zum Anfang doch einige ganz normale Geburten. Die Klinik war aber nicht dafür eingerichtet, Frauen in der Zeit unmittelbar vor der Geburt, in den Wehen, gut betreuen zu können. Es gab kein Geburtenzimmer, nur ein Geburtenset mit den nötigsten Instrumenten. Es waren hauptsächlich Männer für schwangere Frauen und Geburten zuständig: Krankenpfleger, die das nebenher erledigten. Geburtshilfe war ein Stiefkind mit wenig Ansehen. Auch die hygienischen Verhältnisse waren natürlich völlig anders als das, was ich aus der Schweiz kannte.
Mit der Zeit gelang es, die Infrastruktur und die ganze Betreuung zu verbessern. Die Zahl der Geburten nahm rasch zu: In meinem ersten Jahr kamen in der Klinik vielleicht 60 Kinder zur Welt, im zweiten Jahr schon 90, und so ging es weiter. Der Bau eines kleinen Geburtshauses als Ort, an dem die Frauen sein können, war ein grosser Schritt vorwärts.
Wir konnten dann eine junge Frau, die mich bereits als Helferin unterstützte, nach Hawassa in eine Hebammenschule schicken. So kamen wir zu unserer ersten «richtigen» äthiopischen Hebamme. Mit der Zeit kamen weitere dazu. Etlichen ausgebildeten Krankenschwestern, die sich eigneten, konnte ich auch selber das geburtshilfliche Know-how vermitteln. So entstand mit der Zeit ein kleines Team. In den letzten Jahren hatten wir meist zwischen 700 und 800 Geburten pro Jahr.
Von den betreuten Frauen und auch ihren Angehörigen spürte ich eine grosse Dankbarkeit für unsere Bemühungen, die Geburtshilfe zu verbessern. Eindrücklich in Erinnerung ist mir, als ich zum ersten Mal eine Frau betreute, deren Kind leider die Geburt nicht überlebte. Mir graute davor, den Angehörigen draussen diese Nachricht zu überbringen. Sie fragten sofort, wie es denn der Mutter gehe. Als ich ihnen sagen konnte, dass die Mutter wohlauf war, fielen sie mir vor Dankbarkeit fast um den Hals!
Wie hast du in Bezug auf die Arbeit deinen Glauben gelebt?
Einerseits musste man aufpassen, bei allen Herausforderungen selber nicht «auszutrocknen». Bei uns in der Geburtshilfe war es oft naheliegend, die Frauen zu ermutigen. Also fragten wir, ob wir mit ihnen beten dürften. Das nahmen die meisten gerne in Anspruch, ob Moslems, evangelische oder orthodoxe Christen. Wir führten zusammen mit Einheimischen auch Kinderstunden und Sonntagsschul-Seminare durch. Der Gesundheitsunterricht bot viele Gelegenheiten, geistliche Themen zu betrachten. Die vielen Krankheiten hier hatten ja oft auch mit dem Lebensstil der Menschen zu tun. Es ist ganz erstaunlich, wieviel man dazu in der Bibel findet, etwa zum Thema Hygiene: dass man sein Geschäft eben nicht ums Haus herum verrichten soll, sondern an einem abgesonderten Ort.
Beim Gesundheitsunterricht im entlegenen Nono-Gebiet bringen Bilder die Botschaft auf den Punkt.
Was half dir, selber nicht auszutrocknen, wie du sagst?
Einerseits hatten wir eine gute Betreuung durch die MN aus der Schweiz und durch das Landesbüro in Addis Abeba, das war sehr kostbar. Auch der persönliche Kontakt zu einer guten Freundin in der Schweiz half mir sehr. Am Anfang lief das über Briefe, da ging es jeweils zwei Monate, bis eine Rückmeldung kam. Irgendwann hatten wir in Addis ein Faxgerät, das erleichterte die Kommunikation. Wichtig war mir auch, ab und zu ein freies Wochenende woanders zu verbringen. Dazu ging ich jeweils nach Attat, wo ich in einem befreundeten Spital ein Zimmer bekam. Dort suchte ich bewusst die Stille, nahm mir Zeit zum Bibellesen und Gebet. Hilfreich war auch, dass wir drei bis vier Schweizerinnen vor Ort waren. So konnten wir aufeinander achten und uns gegenseitig ermutigen.
Später kamen dann moderne Kommunikationsmittel wie Internet und Threema hinzu. Das war mir eine grosse Stütze, gerade in den letzten Jahren, als ich ja die einzige Europäerin in der Walga war. Als während den Unruhen im Norden einmal für drei Wochen das Internet abgestellt war, vermisste ich diese Kontakte. Andererseits war das eine gute Übung, umso mehr Gottes Nähe zu suchen und auf ihn zu vertrauen.
Gab es Zeiten, wo du am liebsten alles hingeschmissen hättest?
Ja, durchaus. Einmal dachte ich wirklich, dass es nicht mehr geht. Da fiel mir etwas ein, was mir noch vor meiner Ausreise eine Missionarin aus Ägypten erzählt hatte. Sie war einmal schon dabei, vor lauter Frust ihren Koffer zu packen und abzureisen. Da kam es ihr vor, als ob sie in sich drin eine Stimme hören würde, die sie auslacht. Da dämmerte ihr: Ja genau, der Teufel lacht sich jetzt ins Fäustchen, wenn ich aufgebe. Aber will ich das, ihm eine Freude machen? Umgehend bereute sie ihre Absicht, räumte den Koffer wieder in den Schrank und beschloss, sich nie mehr dazu hinreissen zu lassen, einfach so aufzugeben. So wollte ich es auch halten: Wenn Gott mir zeigt, dass es genug ist, will ich gerne nach Hause fahren. Aber nicht vorher.
Du hast am Anfang erwähnt, dass das Tsigereda-Projekt sehr umkämpft war. Was denkst du, warum war das so?
Wenn man sich gegen Abtreibungen einsetzt, ist das eine Art Generalangriff auf die von Gottes Gegenspieler. Deshalb ist es nicht erstaunlich, dass er einiges in Bewegung setzt, um so eine Arbeit zu unterbinden. Wir haben viel gebetet für dieses Projekt und es immer wieder in Gottes Hände gelegt. Ohne seine Hilfe hätte ich das nicht durchgestanden.
Wie hat sich die Umgebung des Walga-Gesundheitszentrum in den letzten 30 Jahren verändert?
Als ich dort anfing, standen rings um das Areal einige wenige Häuser. Heute ist die Umgebung recht dicht besiedelt, es gibt mehr Schulen, offiziell nennt sich die Gemeinde sogar Stadt. Damals konnten die Kinder nur bis zur 6. oder 7. Klasse vor Ort den Unterricht besuchen, die höheren Stufen bis zur 12. Klasse mussten sie in Wolkite besuchen. Es gab nur sporadische Transportmöglichkeiten dorthin. Deshalb gab es in der Gegend auch nur ganz wenige Mädchen mit einem regulären Schulabschluss: Die Eltern hatten Angst um ihre Töchter und wollten sie nicht so weit reisen lassen.
Auch in Sachen Hygiene hat sich einiges verbessert, was sicher auch auf die vielen Schulungen durch das Gesundheitszentrum zurückzuführen ist. Das sieht man z.B. an den Menschen, die in die Klinik kommen: Die meisten sind gepflegt, waschen sich, tragen ordentliche Kleider. Das war in meiner Anfangszeit ganz anders.
Was hat sich nicht so positiv entwickelt?
Für die junge Generation hier in Äthiopien sind die modernen Medien eine riesige Herausforderung. Sie gaukeln eine Scheinwelt vor. Die jungen Frauen und Männer sehen den vermeintlichen Reichtum, den andere haben, und wünschen sich das auch. Viele treten sehr fordernd auf, der traditionell grosse Respekt gegenüber Eltern und Grosseltern hat abgenommen. Ein Lehrer erzählte mir, wie er einem Schüler ein Handy wegnehmen wollte, mit dem er während des Unterrichts herumspielte. Der Schüler fasste ihn am Hals und drohte, ihn zu erwürgen.
Mir scheint, dass der Wert des einzelnen Lebens abgenommen hat. Für viele zählt nur Geld und Macht. Die Suizidversuche bei jungen Menschen haben zugenommen. Geht man solchen Fällen auf den Grund, hört man Antworten wie: «Meine Eltern lieben mich nicht, sie kaufen mir nicht einmal ein Handy!» Dabei haben diese ja das Geld dafür gar nicht. In einem anderen Fall wollte ein Junge, dessen Eltern alles taten, damit er die Schule abschliessen konnte, in der 10. Klasse abbrechen. Von den Eltern verlangte er, ihm ein Motorrad zu kaufen, er wolle damit Taxidienste anbieten. Das konnten sie sich aber nicht leisten. Der junge Mann kaufte Rattengift und nahm sich damit das Leben.
Auch Diebstähle haben zugenommen. Deshalb ist das Klinikgelände heute von einem hohen Wellblechzaun umgeben, der früher nicht nötig war. Bei Streitigkeiten unter jungen Männern zückt heute schnell jemand ein Messer. Das gab es früher so nicht.
Sicher spielen auch die vielen Unruhen, die es in den letzten Jahren in Äthiopien gab, eine Rolle. Dadurch werden manche angestiftet, ebenfalls Gewalt anzuwenden.
Für was bist du im Rückblick auf deine 33 Jahre in Afrika dankbar?
In erster Linie Gott für alle Bewahrung und sein Durchtragen, ohne dass ich vermutlich gar nicht mehr am Leben wäre. Wenn jemand in drei Metern Entfernung eine Pistole auf einen richtet, abdrückt und dann die Kugel im Lauf steckenbleibt, ist für mich einfach klar: Da hat Gott eingegriffen. Auch bei Krankheiten, als einmal bei Malaria die Medikamente nicht wirkten. Da dachten alle, ich würde sterben. Autounfälle, die tödlich hätten enden können, aber glimpflich ausgingen. Natürlich auch in vielen Situationen in der Geburtshilfe und im Tsigereda.
Dankbar bin ich auch für alle Unterstützung aus der Schweiz, im Missionsbüro und durch die vielen Beterinnen und Beter. Sie sind der «Motor» der Mission! Manchmal nahmen Situationen Wendungen zum Guten, für die es aus menschlicher Perspektive keine Erklärung gab. Da dachten wir oft: Wer hat nun wohl ganz bewusst für die Walga-Klinik gebetet?
Wie geht es für dich nun weiter?
Ich bin immer noch in der Phase des Ankommens und Einlebens. Ich bin so dankbar, dass ich hier im «Bellevue» ein gutes, überschaubares Umfeld habe! Ich helfe im «Wöschhüsli» mit, also in der Wäscherei. Es entspricht mir sehr, dass hier der Zeitdruck nicht ganz so gross ist wie etwa in der Küche. Es ist auch ein guter Ort, um nebenher Besucher zu empfangen und so Kontakte aufzufrischen. Alles weitere wird sich zeigen.